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"Erwacht-sein", ein Versuch

Da mir der Begriff „Erwachen“ in den Kontexten, die mir heute begegnen, zum Beispiel bei dem von Vielen ersehnten „Erwachen“ Mitbürger aus einer von System-Medien induzierten Bewusstlosigkeit (und eigener „Trägheit“), immer ein großes Unbehagen bereitet, möchte ich im Folgenden versuchen, diesen Begriff für mich zu klären.

In der Regel sind es Menschen, die sich selbst als bereits „erwacht“ einschätzen, die diesen Wunsch gegenüber einer großen Gruppe von noch „schlafenden“ Mitmenschen ausdrücken. Das „reale“ Maß des Erwachtseins verdankt sich einer Selbsteinschätzung oder der gemeinsamen Übereinstimmung eine Gruppe von Menschen, die sich für ähnlich erwacht erachten. Der Frage, wie es um dieses „Erwachtsein“ steht, möchte ich mich ebenfalls annähern. Ein Atheist wird die Aussage „ich bin zu Jesus erwacht“ sicher anders beurteilen als ein Christ, der wiederum von diesem bedauernd annimmt, er sei noch nicht erwacht. Gewöhnlich sind beide sicher, dass sie die jeweils wahrhaft „Erwachten“ seien.

 

In diesem Zusammenhang werden „aufwachen“ und „erwachen“, respektive „aufgewacht-sein“ und „erwacht-sein“ synonym verwendet.

Erwacht-sein wird verstanden als ein Zustand höheren Bewusstseins und Gewahrseins gegenüber keinem, beziehungsweise nur geringem Bewusstsein auf Seiten der noch „Schlafenden“.

 

Dem Begriff „Erwachen“ liegt etwas Passives zu Grunde. Zugleich wird vom „Erwachen“ in der Regel retrospektiv gesprochen. „Da wachte ich auf…“ oder „und so kam es, dass ich erwachte…“ Vom „Erwachen“ im Sinne eines aktiven Handelns als Folge einer willentlichen Entscheidung zu sprechen, begegnet in unserem Sprachgebrauch eher nicht. Es mag zwar geschehen, dass jemand sagt: „ich beschließe aufzuwachen und mich dieser oder jener Erkenntnis zu stellen“. Das setzt aber ein bereits-wach-sein voraus.

Wie eine Ausnahme klingt zunächst dasjenige morgendliche Aufwachen, nachdem ich mir abends vor dem Einschlafen vorgenommen habe, zu dieser oder jener Uhrzeit wach zu werden. Aber auch hier ist das „Erwachen“ nicht das eigentliche Handeln, sondern erst das Ergebnis einer zuvor erfolgten Entscheidung, die ein wach-sein voraussetzt.

 

Allein schon vor dem Hintergrund der Unklarheiten bei dieser ersten Annäherung an mein Thema erklärt sich mein Unbehagen. Deshalb habe ich auch den Satz formuliert: „Wenn von "Erwachen" die Rede ist, ist oft die Rede von noch tieferem und komplexerem Träumen.“

 

In dieser Annäherung werde ich zunächst einige erkenntnistheoretische Positionen anführen. Dabei geht es um differierende Thesen von Plato und Aristoteles sowie von Descartes und Kant. Diese Thesen verwende ich, weil diese Philosophen in exemplarischer Weise zu dem Phänomen der Erkenntnis Stellung genommen haben. Denn eine Erkenntnis mit einem definierbaren, womöglich überprüfbaren und nachvollziehbaren Wahrheitswert kann es nur geben, wenn man wach ist: und das setzt das „Erwacht-Sein“ voraus!

 

Mir erscheint die Frage, wovon beim „Erwachen“ die Rede ist bedeutungsvoll, weil der Begriff sich als machtvolles Framing erweist und von allen Seiten genutzt wird, ohne wirklich klar zu sein. Im Gegensatz dazu erscheint es klar zu sein, mit welcher Absicht dieser Frame gesetzt wird. Denn stets stehen den „Erwachten“ in den herrschenden Narrativen der einen Position, die „Schlafenden“ der anderen Position gegenüber. Diese Begriffe werden zu Diffamierung, Eingrenzung und Spaltung verwendet. Sie werden verwendet, um die eigene Überlegenheit zu unterstreichen, vor allem aber als Beleg für die Wahrheit der eigenen Aussagen. Ein höchst unerwünschter Effekt dabei erscheint aber immer wieder darin zu bestehen, dass die Kennzeichnungen einen Diskurs über tatsächliche Sachverhalte blockiert. Manchmal entsteht dabei der Eindruck, dass das angezielt wird im Sinne eines Argumentes ad hominem oder Strohmannargumentes.

 

Zunächst einmal: Erwacht-sein bedeutet ganz einfach, wach zu sein, das heißt aufmerksam zu sein, wie etwa beim Wache stehen. Allerdings wird hier schon deutlich, worin das Grundproblem mit diesem Begriff besteht. Erwacht-sein setzt das wach-sein voraus.

 

Ohne Erwacht-sein, gibt es auch ein Problem mit der an sich schon höchst problematischen Erkenntnisfähigkeit des Menschen: ohne Bewusst-Sein kann eigentlich gar nicht von einer Erkenntnis gesprochen werden, sondern allenfalls einem Reiz-Reaktions-Mechanismus. Auch dazu mehr später. Keine

 

Also geht es zunächst um die Erkenntnisfähigkeit überhaupt. Voraussetzung dafür sind nach Kant beim Menschen der Verstand, der die Werkzeuge der Unterscheidung in seinen Kategorien a priori bereitstellt und die Vernunft, die zu Urteil und Entscheidung führt, im Sinne eigenständigen Denkens und Handelns. Im Zusammenhang mit meinem kleinen Kant-Exkurs werden die Begriffe klarer werden.

 

Wie sieht es nun mit der Erkenntnisfähigkeit des Menschen aus. Darauf haben insbesondere Philosophen unterschiedliche Antworten gefunden. Meine hier vorgestellte Auswahl von Thesen erhebt keinen Anspruch auf Vollständigkeit.

 

In seinem berühmten Höhlengleichnis zeigt der griechische Philosoph Platon das Grundproblem. Er sieht den Menschen angekettet im Kerker seiner Überzeugungen in den Fesseln seiner verleugneten Unwissenheit. Der Mensch glaubt, er erkenne die Wirklichkeit, dabei nimmt er tatsächlich nur vage Schatten der Dinge der Welt wahr. Nur Einzelnen gelingt es, sich aus ihren Fesseln zu befreien und sich mühsam an die Oberfläche zu kämpfen. Dort angekommen erkennen diese Wenigen die Wirklichkeit der Dinge im hellen Schein der Sonne. Der Versuch, die immer noch in ihren Ketten verharrenden Troglodyten mit der Wahrheit an die Oberfläche der wirklichen Welt zu locken, scheitert an deren Weigerung, sich aus ihrer Gefangenschaft zu befreien (und damit hat Platon bereits definiert, was eine kognitive Verzerrung ist). Eine sehr pessimistische Perspektive. Allerdings fällt es nicht schwer die Parallelen zu den Erfahrungen unserer Zeit zu sehen.

 

Sein Schüler Aristoteles war dagegen geradezu „optimistisch“, denn für ihn war der Mensch nicht auf fast aussichtslos erscheinende Weise in seinen verstockten Strukturen gefangen wie sein Lehrer Platon glaubte, der nach dem Unrechtsurteil gegen Sokrates wohl die Hoffnung auf Besserung der Menschen verloren hatte und im Umgang mit Sokrates ein Gleichnis dafür gesehen hatte, wie die Menschen mit der Wahrheit umgingen.

Im Gegenteil gehörte für Aristoteles die Anlage zur Erkenntnis des Wahren gewissermaßen zur gattungsgemäßen Grundausstattung des Menschen. Grundsätzlich war ihm diese Fähigkeit gegeben. Allerdings fiel ihm diese Fähigkeit nicht einfach so zu. Der Mensch musste mit größter Disziplin und Sorgfalt seine Fähigkeiten schulen und einüben, um im Streben nach dem Wahren zuletzt als Philosoph seine Meisterschaft und Glückseligkeit zu finden. Zuletzt aber stand ihm so der Weg zur Wahrheit offen. Allerdings waren es nur die „Edlen“, die sich diesen Mühen unterwarfen. Und von diesen gab es auch in Aristoteles‘ Zeit nur wenige. Übrigens hat Aristoteles‘ Glücksbegriff mit dem unsrigen wenig gemein. Für ihn ist der Mensch, der seine Anlagen erfüllt glückselig“

 

In beiden Perspektiven kommt ein „aufwachen“ oder „erwachen“ nicht vor. Der Mensch muss selber handeln und entscheiden. Dazu muss er aber bereits „wach“ sein. Bei Platon kommt es dann zu dem seltenen Ausbruch aus der Höhlenwelt durch Einzelne, ohne jeden Einfluss auf die Haltung der anderen Gefesselten, die seinem guten Beispiel keinesfalls folgen. Die Gefesselten würden die Boten der Wahrheit eher meucheln, sollten sie in ihre Hände fallen. Auch diese Struktur menschlichen Verhaltens hat sich seitdem nicht verändert.

Bei Aristoteles muss der Einzelne den besten Nutzen aus seiner Anlage zur Erkenntnis ziehen. Dazu muss er die Welt untersuchen. Das griechische Wort dafür ist „kritein“ und bedeutet „unterscheiden“. Daher stammt unser kritisieren.

Platons und Aristoteles‘ Philosophie haben nach wie vor einen großen Anteil an den geistigen Strukturen unserer Zeit. Wesentliche Thesen beider finden sich im Fundament der Dogmen und Glaubenssätze des Christentums, einem Grundpfeiler unserer Kultur und damit unseres Denkens aber auch in den Wissenschaften lassen sich ihre Spuren ohne Mühe finden.

 

In gewisser Weise spricht René Descartes dann über tausend Jahre später auch über die Frage des „Erwachens“. Aber auch für Descartes ist das „Erwacht-sein“ eine Voraussetzung für seine kritische Methode, die keine besondere Erwähnung findet. Für Descartes sind es ebenfalls die Schwächen der menschlichen Erkenntnisfähigkeit, die es zu überprüfen gilt. Er glaubt, bei Anwendung seiner Kritik fänden die Menschen eine sichere Basis für ihre Urteile, also letztlich für die Frage nach dem Wahrheitswert ihrer Begriffe. Dabei geht es Descartes aber nicht um ein „Erwachen“ aus einem Zustand des „Unwissens“, so wie wir es verstehen, sondern ihm geht es darum, einen Weg zu finden auf dem der Mensch überhaupt zu „der“ Wahrheit vordringen kann. In seinem berühmten Buch „Meditationen“ fragt er sich zunächst, ob wir überhaupt ein Kriterium haben zwischen Wachen oder Träumen zu unterscheiden. Und dabei geht es dann doch irgendwie um unsere Frage.

 

„1. Schon vor einer Reihe von Jahren habe ich bemerkt, wieviel Falsches ich in meiner Jugend habe gelten lassen und wie zweifelhaft alles ist, was ich hernach darauf aufgebaut, daß ich daher einmal im Leben alles von Grund aus umstoßen und von den ersten Grundlagen an neu beginnen müsse, wenn ich jemals für etwas Unerschütterliches und Bleibendes in den Wissenschaften festen Halt schaffen wollte… und werde endlich ernsthaft und unbeschwert zu diesem allgemeinen Umsturz meiner Meinungen schreiten.

2. Dazu wird es indessen nicht nötig sein zu zeigen, daß sie alle falsch sind, denn das würde ich wohl niemals erreichen können… ich werde vielmehr, da bei untergrabenen Fundamenten alles darauf Gebaute von selbst zusammenstürzt, den Angriff sogleich auf eben die Prinzipien richten, auf die sich alle meine früheren Meinungen stützten.

3. Alles nämlich, was ich bisher am Ehesten für wahr gehalten habe, verdanke ich den Sinnen oder der Vermittlung der Sinne. Nun aber bin ich dahinter gekommen, daß diese uns bisweilen täuschen, und es ist ein Gebot der Klugheit, denen niemals ganz zu trauen, die uns auch nur einmal getäuscht haben.

4. Indessen - mögen uns auch die Sinne mit Bezug auf zu kleine und entfernte Gegenstände bisweilen täuschen, so gibt es doch am Ende sehr vieles andere, woran man gar nicht zweifeln kann, wenngleich es aus denselben Quellen geschöpft ist; so z. B. daß ich jetzt hier bin, daß ich, mit meinem Winterrock angetan, am Kamin sitze, daß ich dieses Papier mit den Händen betaste und ähnliches; vollends daß diese Hände selbst, daß überhaupt mein ganzer Körper da ist, wie könnte man mir das abstreiten? Ich müsste mich denn mit ich weiß nicht welchen Wahnsinnigen vergleichen…

5. Vortrefflich! - Als ob ich nicht ein Mensch wäre, der des Nachts zu schlafen pflegt, und dem dann genau dieselben, ja bisweilen noch weniger wahrscheinliche Dinge im Traume begegnen, als jenen im Wachen! Wie oft doch kommt es vor, daß ich mir all diese gewöhnlichen Umstände während der Nachtruhe einbilde, etwa daß ich hier bin, daß ich, mit meinem Rocke bekleidet, am Kamin sitze, während ich doch entkleidet im Bette liege. Jetzt aber schaue ich doch sicher mit wachen Augen auf dieses Papier, dies Haupt, das ich hin und her bewege, schläft doch nicht, mit Vorbedacht und Bewusstsein strecke ich meine Hand aus und fühle sie. So deutlich geschieht mir dies doch nicht im Schlaf. - Als wenn ich mich nicht entsänne, daß ich sonst auch schon im Traume durch ähnliche Gedankengänge genarrt worden bin! Denke ich einmal aufmerksamer hierüber nach, so sehe ich ganz klar, daß Wachsein und Träumen niemals durch sichere Kennzeichen unterschieden werden können, - so daß ich ganz betroffen bin und gerade diese Betroffenheit mich beinahe in der Meinung bestärkt, ich träumte.

6. Meinetwegen: wir träumen. Mögen wirklich alle jene Einzelheiten nicht wahr sein, daß wir die Augen öffnen, den Kopf bewegen, die Hände ausstrecken; ja, mögen wir vielleicht gar keine solchen Hände, noch überhaupt solch einen Körper haben: so muß man in der Tat doch zugeben, das im Schlafe Gesehene seien gleichsam Bilder, die nur nach dem Muster wahrer Dinge sich abmalen konnten, daß also wenigstens dies Allgemeine: Augen, Haupt, Hände und überhaupt der ganze Körper nicht bloß eingebildet ist, sondern wirklich existiert. Sind doch auch die Maler, selbst wenn sie Sirenen und Satyre in den fremdartigsten Gestalten zu bilden versuchen, nicht imstande, ihnen in jeder Hinsicht neue Eigenschaften zuzuteilen, sondern sie mischen nur die Glieder von verschiedenen lebenden Wesen durcheinander; oder wenn sie vielleicht etwas so unerhört Neues sich ausdenken, wie man ähnliches Oberhaupt nie gesehen hat, das also ganz und gar erfunden und unwahr ist, so müssen doch mindestens die Farben wahr sein, aus denen sie es zusammensetzen. Aus demselben Grunde muß man, auch wenn sogar dies Allgemeine: Augen, Haupt, Hände und dergleichen nur eingebildet sein könnte, doch notwendig gestehen, daß wenigstens gewisse andere, noch einfachere und allgemeinere Dinge wahr sind, mit denen als den wahren Farben alle jenen wahren oder falschen Bilder von Dingen in unserem Bewußtsein gemalt sind.

7. Von dieser Art scheinen die Natur der Körper im allgemeinen und ihre Ausdehnung zu sein, ferner die Gestalten der ausgedehnten Dinge, ebenso die Quantität, d. i. ihre Größe und Zahl, ebenso der Ort, an dem sie existieren, die Zeit, während der sie dauern, und dergleichen.

8. Man darf wohl mit Recht hieraus schließen, daß zwar die Physik, die Astronomie, die Medizin und alle anderen Wissenschaften, die von der Betrachtung der zusammengesetzten Dinge ausgehen, zweifelhaft sind, daß dagegen die Arithmetik, die Geometrie und andere Wissenschaften, dieser Art, die nur von den allereinfachsten und allgemeinsten Gegenständen handeln und sich wenig darum kümmern, ob diese in der Wirklichkeit vorhanden sind oder nicht, etwas von zweifelloser Gewißheit enthalten. Denn ich mag wachen oder schlafen, so sind doch stets 2+3=5, das Quadrat hat nie mehr als vier Seiten, und es scheint unmöglich, daß so augenscheinliche Wahrheiten in den Verdacht der Falschheit geraten können.

9. Es ist indessen in meinem Denken eine alte Überzeugung verwurzelt, daß es einen Gott gebe, der alles vermag, und von dem ich so, wie ich bin, geschaffen wurde. Woher weiß ich aber, ob er nicht bewirkt hat, daß es überhaupt keine Erde, keinen Himmel, kein ausgedehntes Ding, keine Gestalt, keine Größe, keinen Ort gibt und daß dennoch dies alles genau so, wie es mir jetzt vorkommt, bloß da zu sein scheint; ja sogar auch, so wie ich überzeugt bin, daß andere sich bisweilen in dem irren, was sie vollkommen zu wissen meinen, ebenso könnte auch ich mich täuschen, sooft ich 2 und 3 addiere oder die Seiten des Quadrats zähle, oder was man sich noch leichteres denken mag. Aber vielleicht hat Gott nicht gewollt, daß ich mich täusche, heißt er doch der Allgütige. Allein, wenn es mit seiner Güte unvereinbar wäre, daß er mich so geschaffen, daß ich mich stets täusche, so schiene es doch ebenso wenig dieser Eigenschaft entsprechend, zu erlauben, daß ich mich bisweilen täusche, welch letzteres sicherlich doch der Fall ist.

10. Freilich möchte es wohl manche geben, die lieber leugnen würden, daß ein so mächtiger Gott überhaupt existiert, als daß sie an die Ungewißheit aller anderen Dinge glaubten; allein mit denen wollen wir nicht streiten und wollen einmal zugeben, all dies von Gott Gesagte sei eine bloße Fiktion. Indes, mag man auch annehmen, ich sei durch Schicksal oder Zufall oder durch die Verkettung der Umstände oder sonst auf irgendeine Weise zu dem geworden, was ich bin, jedenfalls scheint doch das Sich-täuschen und -irren eine gewisse Unvollkommenheit zu sein; und also wird es, je geringere Macht man meinem Urheber zuschreibt, um so wahrscheinlicher sein, ich sei so unvollkommen, daß ich mich stets täusche. Auf diese Gründe habe ich schlechterdings keine Antwort, und so sehe ich mich endlich gezwungen, zuzugestehen, daß an allem, was ich früher für wahr hielt, zu zweifeln möglich ist - nicht aus Unbesonnenheit oder Leichtsinn, sondern aus triftigen und wohlerwogenen Gründen - und daß ich folglich auch all meinen früheren Überzeugungen ebenso wie den offenbar falschen, meine Zustimmung fortan sorgfältig versagen muß, wenn ich etwas Gewisses entdecken will.

11. Indessen ist es nicht genug, dies einmal bemerkt zu haben, man muß vielmehr Sorge tragen, es sich stets gegenwärtig zu halten, kehren doch die gewohnten Meinungen unablässig wieder und nehmen meine Leichtgläubigkeit, die sie gleichsam durch den langen Verkehr und durch vertrauliche Bande an sich gefesselt haben, fast auch wider meinen Willen in Beschlag. Und ich werde es mir niemals abgewöhnen, ihnen beizustimmen und zu vertrauen, solange ich sie für das ansehe, was sie in der Tat sind, nämlich zwar - wie bereits gezeigt - für einigermaßen zweifelhaft, aber immerhin recht wahrscheinlich und so, daß es weit vernünftiger ist, sie zu glauben als zu leugnen. Es wird daher, denke ich, wohl angebracht sein, wenn ich meiner Willkür die gerade entgegengesetzte Richtung gebe, mich selbst täusche und für eine Weile die Fiktion mache, jene Meinungen seien durchweg falsch und seien bloße Einbildungen, bis ich schließlich das Gewicht meiner Vorurteile auf beiden Seiten so ins Gleichgewicht gebracht habe, daß keine verkehrte Gewohnheit mein Urteil fernerhin von der wahren Erkenntnis der Dinge abwendet. Denn ich weiß ja, daß hieraus inzwischen keine Gefahr oder kein Irrtum entstehen und daß ich meinem Mißtrauen gar nicht zu weit nachgehen kann, da es mir ja für jetzt nicht aufs Handeln, sondern nur aufs Erkennen ankommt.

12. So will ich denn annehmen, nicht der allgütige Gott, die Quelle der Wahrheit, sondern irgendein böser Geist, der zugleich allmächtig und verschlagen ist, habe all seinen Fleiß daran gewandt, mich zu täuschen; ich will glauben, Himmel, Luft, Erde, Farben, Gestalten, Töne und alle Außendinge seien nichts als das täuschende Spiel von Träumen, durch die er meiner Leichtgläubigkeit Fallen stellt; mich selbst will ich so ansehen, als hätte ich keine Hände, keine Augen, kein Fleisch, kein Blut, überhaupt keine Sinne, sondern glaubte nur fälschlich das alles zu besitzen. Und ich werde hartnäckig an diesem Gedanken festhalten und werde so, wenn ich auch nicht imstande sein sollte, irgendetwas Wahres zu erkennen, mich doch entschlossenen Sinnes in acht nehmen, soviel an mir liegt, nichts Falschem zuzustimmen, noch von jenem Betrüger mich hintergehen zu lassen, so mächtig und so verschlagen er auch sein mag. Aber dies ist ein mühevolles Unternehmen und eine gewisse Trägheit führt mich zur gewohnten Lebensweise zurück. Wie ein Gefangener, der etwa im Traume eine eingebildete Freiheit genoß, wenn er später zu argwöhnen beginnt, daß er nur schlafe, sich fürchtet, aufzuwachen, und sich den schmeichlerischen Vorspiegelungen träge hingibt, so sinke ich von selbst in die alten Meinungen zurück und fürchte mich zu ermuntern, um nicht das mühselige Wachsein, das auf die behagliche Ruhe folgt, statt im Lichte in der undurchdringlichen Finsternis der gerade zur Sprache gebrachten Schwierigkeiten zubringen zu müssen…“

 

In seinem „systematischen“ Zweifel ergibt sich für Descartes zuletzt, dass es nur eine Sache gibt, an der er nicht zu zweifeln vermag: an der Tatsache seiner Kognition, in diesem Fall dem Zweifel. Und so kommt er zuletzt zu dem Schluss: „cogito, ergo sum“, ich denke, also bin ich. Ich kenne eine andere Version „cogitans, ergo sum“, denkend bin ich. Die ist noch radikaler. Dabei gäbe es nicht einmal mehr ein statisches „ich“, dass im „cogito“ ja sprachlich vorausgesetzt wird.

 

Schon im ersten Satz wird klar: auch bei Descartes kommt der Impuls, die eigenen Positionen zu bedenken und infrage zu stellen aus ihm selbst. Auch hier kein von irgendwoher außen kommendes Erweckungserlebnis, sondern auch hier ist es der handelnde Mensch, der sich mit seiner Vernunft der Frage nach der Wahrheit stellt. Der Mensch, der die Methode Descartes‘ anwendet ist bereits wach. Das Erwacht-sein hat das wach-sein als seine Voraussetzung.

Den Prozess selber beschreibt Descartes als sehr schmerzhaft.

 

„Der Geist „…gewinnt seine Wahrheit nur, indem er in der absoluten Zerrissenheit sich selbst findet…“, schreibt Hegel später, „…indem er dem Negativen ins Angesicht schaut, bei ihm verweilt…“

 

Übrigens mag für viele Menschen der Unterschied zwischen Wachen und Schlafen evident sein und somit auch der Unterschied zwischen träumen und bewusst wach zu agieren auf der Hand liegen; man möge sich aber einmal der Mühe unterziehen, das Argument von Descartes zu widerlegen…

 

Also: zuletzt führt sein methodisches Zweifeln Descartes zu der einen Gewissheit, dass immerhin die Tatsache, dass er denkt zuletzt als einzige gewisse Basis für jede weitere Kognition übrig bleibt. Der Impuls, die große, anstrengende Arbeit und Herausforderung, „Alles“ zu hinterfragen, vor allem die bisherigen Überzeugungen, kommt aus ihm selber. Die Klärungsarbeit muss er selber bewältigen.

 

Und auch bei Immanuel Kant steht das mündige, denkende Subjekt im Vordergrund. Hier noch einmal die ersten Abschnitte seines Textes „Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung?“, 1784.

 

„Aufklärung ist der Ausgang des Menschen aus seiner selbst verschuldeten Unmündigkeit. Unmündigkeit ist das Unvermögen, sich seines Verstandes ohne Leitung eines anderen zu bedienen. Selbstverschuldet ist diese Unmündigkeit, wenn die Ursache derselben nicht am Mangel des Verstandes, sondern der Entschließung und des Mutes liegt, sich seiner ohne Leitung eines anderen zu bedienen. Sapere aude! Habe Mut dich deines eigenen Verstandes zu bedienen! ist also der Wahlspruch der Aufklärung. Faulheit und Feigheit sind die Ursachen, warum ein so großer Teil der Menschen, nachdem sie die Natur längst von fremder Leitung frei gesprochen (naturaliter maiorennes), dennoch gerne zeitlebens unmündig bleiben; und warum es Anderen so leicht wird, sich zu deren Vormündern aufzuwerfen. Es ist so bequem, unmündig zu sein. Habe ich ein Buch, das für mich Verstand hat, einen Seelsorger, der für mich Gewissen hat, einen Arzt, der für mich die Diät beurteilt, u.s.w., so brauche ich mich ja nicht selbst zu bemühen. Ich habe nicht nötig zu denken, wenn ich nur bezahlen kann; andere werden das verdrießliche Geschäft schon für mich übernehmen. Daß der bei weitem größte Teil der Menschen (darunter das ganze schöne Geschlecht) den Schritt zur Mündigkeit, außer dem daß er beschwerlich ist, auch für sehr gefährlich halte: dafür sorgen schon jene Vormünder, die die Oberaufsicht über sie gütigst auf sich genommen haben. Nachdem sie ihr Hausvieh zuerst dumm gemacht haben und sorgfältig verhüteten, daß diese ruhigen Geschöpfe ja keinen Schritt außer dem Gängelwagen, darin sie sie einsperrten, wagen durften, so zeigen sie ihnen nachher die Gefahr, die ihnen droht, wenn sie es versuchen allein zu gehen. Nun ist diese Gefahr zwar eben so groß nicht, denn sie würden durch einigemal Fallen wohl endlich gehen lernen; allein ein Beispiel von der Art macht doch schüchtern und schreckt gemeinhin von allen ferneren Versuchen ab. Es ist also für jeden einzelnen Menschen schwer, sich aus der ihm beinahe zur Natur gewordenen Unmündigkeit herauszuarbeiten. Er hat sie sogar lieb gewonnen und ist vor der Hand wirklich unfähig, sich seines eigenen Verstandes zu bedienen, weil man ihn niemals den Versuch davon machen ließ. Satzungen und Formeln, diese mechanischen Werkzeuge eines vernünftigen Gebrauchs oder vielmehr Mißbrauchs seiner Naturgaben, sind die Fußschellen einer immerwährenden Unmündigkeit. Wer sie auch abwürfe, würde dennoch auch über den schmalsten Graben einen nur unsicheren Sprung tun, weil er zu dergleichen freier Bewegung nicht gewöhnt ist. Daher gibt es nur Wenige, denen es gelungen ist, durch eigene Bearbeitung ihres Geistes sich aus der Unmündigkeit heraus zu wickeln und dennoch einen sicheren Gang zu tun (…).“

 

Dem ist auch heute nichts hinzuzufügen.

Bei Kant sucht man vergeblich nach einem „Erwachen“ hin zu einem „mündigen In-der-Welt-sein“. Sondern bei Kant ist es geradezu die Pflicht jedes Menschen, sich seiner von Gott und der Natur gegebenen kognitiven Fähigkeiten, seines Verstandes und seiner Vernunft zu bedienen. Und zwar indem er seine Feigheit und Faulheit hinter sich lässt und mit festem Entschluss und offenem Blick aktiv alles dazu beizutragen, zu wahrheitsfähigen Urteilen zu kommen.

 

Bevor ich nun zu meiner Perspektive komme möchte ich noch einmal zusammenfassen, was diese vier großen Philosophen zu unserem Problem mit dem nicht erwachten, schlafenden Menschen wohl gesagt hätten.

 

Platon würde sich sicher nicht sehr wundern, denn auch seine Zeitgenossen sah er angekettet in einem Reich der Schatten, fern jeder echten Erkenntnis. Die meisten von ihnen völlig unwillig, sich aus ihren Fesseln selbst zu befreien, aber auch unwillig, sich befreien zu lassen. Nur wenige Menschen waren bereit, sich den Mühen zu unterziehen, sich aus den Schatten in eine Welt des Lichtes empor zu kämpfen. Die Menschen hätten sich nicht geändert, und die meisten könnten sich auch gar nicht ändern, würde er heute denken.

 

Aristoteles, der ja, anders als Platon dachte, dass der Mensch über die Anlage zur Erkenntnis verfüge und nur entsprechend gelehrt werden müsse, wie davon Gebrauch zu machen sei und dann nur noch ein Leben lang üben müsse, nach wahrer Erkenntniss zu streben, würde wohl enttäuscht sein, dass die Mehrzahl der Menschen nach wie vor die Bestimmung ihres Daseins verpassen würden, denn nur die Herausbildung und Vervollkommnung der im Menschen angelegten Anlagen wären sein Weg in die Glückseligkeit.

 

Andererseits war für die beiden alten Griechen sowieso klar, dass nur die edelsten Seelen zu wahrer Erkenntnis berufen waren.

 

Hier kann auch auf Heideggers Kritik an der altgriechischen Philosophie hingewiesen werden. Diese Kritik basiert auf dem Unterschied zwischen den Begriffen „ontisch“ und „ontologisch“ also dem Unterschied zwischen „Sein“ und „Dasein“ und der Untersuchung oder Beschreibung des Daseins im Logos, ein Unterschied, der nicht genügend beachtet würde. Bezogen auf den Menschen kann man sagen, dass „Sein“ ist die umfassende Summe des Menschen, der immer auch „dieser“ Mensch in seinem Dasein ist, dazu gehört sein Gewordensein, seine geistigen Strukturen, sein Leben, seine „Brille“. Das und vieles mehr wird von den Menschen aber nicht in Betracht gezogen in der Beschreibung des Seins in seinen Gegenständen in der Ontologie. Denn das uns nächste, nämlich unser eigenes Sein und Dasein ist unserer Erkenntnis das Fernste. Das heißt: Wir glauben das innerweltlich Begegnende und dazu gehören wir selbst, ist uns immer schon verstanden. Wir glauben ganz selbstverständlich, wir kennen uns, „weil, wir sind es ja“. Wir sind überzeugt, dass wir die Welt „scharf“ sehen, z.B. in den Wissenschaften, übersehen aber, dass wir eine Brille tragen, deren optische Struktur „diese“ Seh-Schärfe überhaupt erst hervorruft – und damit die damit verbundene Erfahrung. Aber dieser Verständnis-Horizont bleibt unerschlossen. (Und das ist ein wesentliches Element des Nichterwacht-seins). Dasein ist deshalb das ontologisch fernste, weil wir uns so selbstverständlich im Dasein bewegen, ohne zu wissen unter welchen Vorannahmen wir unsere Welt schon immer aufgebaut haben, was unserem Denken, Erkennen und Rationalisieren voran geht. Vor allem: woher stammen diese Vorannahmen?

 

Und das haben die Griechen nicht bedacht. Aber sie haben es nicht bedacht, weil diese Frage ja erst nach Descartes thematisiert werden konnte und musste. Denn das Kennzeichen der Griechen ist ihr Selbstverständnis und ihre Unmittelbarkeit gegenüber dem Leben. Sie bezeichneten ihre Welt als „Kosmos“ und das beschreibt einen durch und durch wohl geordneten Raum.

 

Die Reflektion des handelnden Ichs durch es selbst kommt nicht vor. Diese Problematik ist aber genau die, die uns interessiert. Vielleicht ist dieser Satz eine vorläufige Beschreibung dafür, was „nicht-Erwacht-sein“ bedeutet. Im Umkehrschluss wäre die Reflektion des handelnden Ichs durch sich selbst eine geeignete vorläufige Beschreibung dafür, was „Erwacht-sein“ (zumindest) auch ist.

 

Descartes würde vielleicht betonen, dass mit seinem Satz „cogito ergo sum“ oder „ich denke, also bin ich“ die entscheidende Grundlage für weiteres Forschen an den Gegenständen der Welt, einer Sphäre, ohne diese Sicherheit, überhaupt erst zur Verfügung stehe.

Allerdings hat er mit seinem methodischen Zweifel zu dem Sturz der Menschen aus ihrer Seins-Gewissheit beigetragen. Erst in der Folge dieser Spaltung wurde die Frage nach den eigenen Bewusstseinsinhalten und Zugängen zur Wirklichkeit akut.

Descartes liefert übrigens, meiner Meinung nach, ein wunderbares Bild über die Tücken der menschlichen Erkenntnisfähigkeit. Sein Nachdenken über die Wahrheitsfähigkeit seiner Überlegungen löste einen Zustand heftiger kognitiver Dissonanz aus. Seine Lebenserfahrung war mit geprägt von seinen schrecklichen Erlebnissen im 30-jährigen Krieg, mit dem Verlust jeglicher Ordnung und dem Zusammenbruch der Zivilisation in Barbarei. Das führte zum Verlust des Vertrauens in die ordnenden Kräfte der Welt. Er konnte an nichts mehr glauben. So erscheint letztlich seine ganze Überlegung über die Fragwürdigkeit aller menschlichen Erkenntnis als Ausdruck einer kognitiven Verzerrung. In letzter Konsequenz hätte das Ergebnis seiner Überlegungen sein müssen, dass eigentlich keine Aussage über die Welt möglich ist. Die Dissonanz, die von diesem Schreckensbild ausging, führte zu dem Schluss, dass diese letzte „rettende“ Basis in Form seiner Lehre des „cogito ergo sum“, durch die sichere Gnade Gottes als wahr und verlässlich sichergestellt sei.

Wenige Jahrzehnte später wurde dieser Rettungsanker preisgegeben: der Mensch als Mischwesen von Zufall und naturgegeben Gesetzmäßigkeiten trat in die Welt.

Die Übrigen würde Descartes mit Blick auf die überaus unintelligenten Verwirrungen unserer Tage mit verdrießlich gerunzelter Stirn murmeln, dass man ihn nicht in der Zurückgezogenheit seines einsamen Denkerlebens stören möge.

 

Kant wiederum würde auf seinen oben zitierten Text verweisen, die Stirne runzeln und etwas von Faulheit, Feigheit und unvorstellbarer Pflichtvergessenheit brummen.

 

Allen gemeinsam wäre aber, dass es nicht um „Erwachen“ oder „Aufwachen“ geht, sondern darum, sich zu entschließen, seine Möglichkeiten zur Erforschung des Wahrheitswertes seiner Erkenntnisse zu nutzen. Selbst beim schwierigsten Erkenntnis-Fall, den Descartes annimmt, nämlich den, dass man nicht einmal mit absoluter Bestimmtheit wisse, ob man wache oder träume, sei bei genügend Denkdisziplin beizukommen.

Aber alle diese Wege beginnen bei jemandem, der bereits wach ist und nicht zufrieden ist mit dem Status seines Bewusst-Seins.

 

So wie die Begriffe „Erwachen“ oder „Aufwachen“ verwendet werden, deuten sie auf einen Prozess. Womit dieser Prozess beginnt bleibt offen. Mir scheint es aber, insbesondere unter Berücksichtigung der Erkenntnisse der Kognitionspsychologie und auch der Evolutionspsychologie ausgeschlossen, dass die Lösung darin liegt „Mutabor“ zu sagen und schon verwandelt sich der Storch wieder in einen Kalifen. Weder Vorwürfe noch Appelle, weder Erklärungen noch Exkurse über wahre Tatsachen führen zum Ziel.

 

Das Kennzeichen des Schlafenden ist das Schlafen.

Den Schlaf stören böse Träume und Außenreize.

Der Schlafende hat kein Bewusstsein darüber, dass er schläft, also kann er das Konzept des Aufgewachtseins als andere Sphäre nicht verstehen.

 

Unser Problem wird auch in dem Gedankenexperiment vom Hirn im Containerthematisiert. Das Gehirn selber kann sich nicht als „Hirn im Container“ sehen, denn das könnte es eben nur, wenn es sich selbst von außerhalb des Containers sehen könnte. Aber es ist im Container und deshalb kann es sich nicht selbst sehen. Und deshalb ist nicht mal die Frage ob „Aufgewacht“ oder „Nichtaufgewacht“ für das Hirn im Container nicht wirklich klärbar, nicht reflektierbar, geschweige denn lösbar. Aber um der Gewissheit seiner Existenz willen und seiner Fähigkeit als Teil der Welt zu funktionieren, muss es sich darauf verlassen, dass sein Konzept keine Illusion oder Lüge ist, sondern wahr.

Wer diese Mechanismen erkannt hat und sie anwenden kann, hat das Mittel in der Hand, den Kalifen in einen Storch zu verwandeln.

 

Es geht beim Erwachen immer um ein Erwachen aus einem bestimmten geistigen Zustand, der von demjenigen, der diesen Zustand diagnostiziert, in der Regel als defizitär angesehen wird. Am „Nichterwachten“ haftet ein Mangel an Bewusst-sein, sein Zustand gilt als Schlafähnlich. Der Nichterwachte wandele ich Träumen und dämmere in wahnhafter Verkennung der Wirklichkeit dahin, betäubt und fern jeder Realität und Wahrheit. Diesen Vorgang kennen wir sehr wohl als Kennzeichen der Forschungsreisenden vergangener Jahrhunderte, wenn sie „Eingeborenen“ begegneten.

 

Gleichzeitig kann davon ausgegangen werden, dass dieses Urteil der Defizienz von jemandem stammt, der sich selber als „wach“ kennzeichnen würde, mit klarem Blick auf die Realität schauend, ausgestattet mit einem ausgeprägten Willen zur Wahrheit.

 

Das erstaunliche ist jedoch, dass andererseits der Nichterwachte sich keineswegs als schlafend einschätzt, sondern genau umgekehrt den sogenannten „Erwachten“ für den Realitätsverweigerer hält.

 

Es hat sich nichts geändert sein Platon und Descartes.

 

Womit dieser Prozess beginnt bleibt offen.

Mir scheint evident, dass die grundlegende Bedingung für das „Wachsein“ im bereits wach sein liegt. Wie es dazu kommt, dass diese Voraussetzung bei einigen Menschen gegeben ist und bei vielen nicht, ist unklar.

An dieser Stelle der Überlegung „droht“ wieder Descartes Dilemma des Kriteriums, Traum oder Nicht-Traum.

 

Was ist möglich?

 

Zunächst sollten sich die „Erwachten“ einem dauernden Prozess der Selbstprüfung unterziehen und sich mit den Gefahren kognitiver Verzerrungen konfrontieren. Sie sollten sich immer daran erinnern, dass das Wesen des Unbewussten darin besteht, dass es unbewusst ist. Traumatisierung und Entfremdung ist ein Teil unserer Kultur, deshalb ist das agieren von Schmerz ebenfalls ein Teil unserer Lebenswelt. In der philosophischen Schule der Phänomenologie hieß es „zurück zu den Dingen“. Gibt es eine Möglichkeit, Tatsachen als Tatsachen zu erfahren oder müssen wir uns mit den Tatsachen, so wie wir sie sehen begnügen.

Das „Ding an sich“ zu finden bindet zu viel letztlich vergeblich verbrauchte Energie. Aber es gibt die Pflicht, sich den Dingen so weit wie möglich anzunähern, wohl wissend, dass es immer „ich“ bin, der wahrnimmt.

Und dann sollte man aus diesen Elementen ein Konzept entwickeln, dass unsere Kinder so früh wie möglich kennen lernen. Das wäre ein Anfang.

 

Ich fürchte, dass die Hoffnung auf das Aufwachen der Schlafenden vergeblich ist. Wenn möglich sollte auch hier Geduld, Respekt, Freundlichkeit und Liebe kultiviert werden. Mir selber gelingt das leider noch nicht allzu oft. Aber ich glaube, dass noch genug Zeit ist zu lernen.

 

Aber vielleicht geschieht der ganze wünschenswerte Prozess einer umfassenden Selbstermächtigung, der Auszug aus dem fragwürdigen Paradies der Uneigenständigkeit mit breiter Brust, das Verlassen des Baumes der Hominiden voller Mut und Hoffnung auf ein echtes Menschsein ja doch auf ganz andere Weise. Nämlich so, wie es G.F.W. Hegel in seiner Vorrede seiner „Phänomenologie des Geistes“, 1807, prognostizierte.

 

„Es ist übrigens nicht schwer, zu sehen, daß unsre Zeit eine Zeit der Geburt und des Übergangs zu einer neuen Periode ist. Der Geist hat mit der bisherigen Welt seines Daseins und Vorstellens gebrochen und steht im Begriffe, es in die Vergangenheit hinab zu versenken, und in der Arbeit seiner Umgestaltung. Zwar ist er nie in Ruhe, sondern in immer fortschreitender Bewegung begriffen. Aber wie beim Kinde nach langer stiller Ernährung der erste Atemzug jene Allmählichkeit des nur vermehrenden Fortgangs abbricht—ein qualitativer Sprung—und itzt das Kind geboren ist, so reift der sich bildende Geist langsam und stille der neuen Gestalt entgegen, löst ein Teilchen des Baues seiner vorgehenden Welt nach dem andern auf, ihr Wanken wird nur durch einzelne Symptome angedeutet; der Leichtsinn wie die Langeweile, die im Bestehenden einreißen, die unbestimmte Ahnung eines Unbekannten sind Vorboten, daß etwas anderes im Anzuge ist. Dies allmähliche Zerbröckeln, das die Physiognomie des Ganzen nicht veränderte, wird durch den Aufgang unterbrochen, der, ein Blitz, in einem Male das Gebilde der neuen Welt hinstellt.

Allein eine vollkommne Wirklichkeit hat dies Neue sowenig als das eben geborne Kind; und dies ist wesentlich nicht außer acht zu lassen. Das erste Auftreten ist erst seine Unmittelbarkeit oder sein Begriff. Sowenig ein Gebäude fertig ist, wenn sein Grund gelegt worden, sowenig ist der erreichte Begriff des Ganzen das Ganze selbst. Wo wir eine Eiche in der Kraft ihres Stammes und in der Ausbreitung ihrer Äste und den Massen ihrer Belaubung zu sehen wünschen, sind wir nicht zufrieden, wenn uns an dieser Stelle eine Eichel gezeigt wird. So ist die Wissenschaft, die Krone einer Welt des Geistes, nicht in ihrem Anfange vollendet. Der Anfang des neuen Geistes ist das Produkt einer weitläufigen Umwälzung von mannigfaltigen Bildungsformen, der Preis eines vielfach verschlungnen Weges und ebenso vielfacher Anstrengung und Bemühung. Er ist das aus der Sukzession wie aus seiner Ausdehnung in sich zurückgegangene Ganze, der gewordne einfache Begriff desselben. Die Wirklichkeit dieses einfachen Ganzen aber besteht darin, daß jene zu Momenten gewordne Gestaltungen sich wieder von neuem, aber in ihrem neuen Elemente, in dem gewordenen Sinne entwickeln und Gestaltung geben.“

 

Zuletzt ist mir wichtig, darauf hinzuweisen, dass die Frage nach dem „Erwacht-sein“ ein Thema unseres westlichen, christlich geprägten Kulturkreises ist. In dem Text über die Bedeutung des Christentums für unsere seelische Konstitution wird davon die Rede sein. Überhaupt klingen für mich in der Diskussion viele religionstypische Elemente an: erlöst oder unerlöst sein, in Sünde oder Gerechtfertigt sein.