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Pillen der Erkenntnis

Alle paar Wochen taucht in den Foren eine Szene aus dem Film „Matrix“ auf. In der Regel in einem Kontext, in dem es um das Aufwachen geht (ein Text zur Problematik dieses Begriffs wird folgen). In dieser Szene bietet der „Erwachte“ Morpheus dem noch nicht aufgewachten Neo zwei Pillen zur Auswahl an. Eine Pille ließe ihn seinen keimenden Zweifel an der „Realität“ der Welt, in der er lebt, vergessen und er könne weiter machen wie zuvor, die andere würde Neo ganz aufwachen, sehen und erleben lassen, dass er zuvor nur in einer simulierten Scheinwelt gelebt habe. Neo entscheidet sich für das Aufwachen zur wirklichen Welt. Die Szene der Wahl zwischen den beiden Pillen hat mich immer gestört, auch wenn damit die eigentliche Geschichte des Films beginnt.

Denn: Gibt es nicht mehr als nur zwei Variationen von Wirklichkeit? Noch dazu nur als Pärchen mit einer unwahren und einer wahren Version der Welt?

Und steht der Zugang zur „wahren Wahrheit“ nur ausgerechnet jemandem mit dem Namen von Morpheus, dem Gott des Schlafes zu Gebot?

Warum soll es nicht mehr als nur zwei Pillen geben, sondern viele, so viele wie es Farben gibt, beispielsweise?

Es scheint so, als gäbe es nur die Wahl zwischen zwei pilleninduzierten Versionen der Wirklichkeit.

Aber vielleicht geht es ja auch ohne Pille.

Dabei geht es um das Elend mit der menschlichen Fähigkeit, das Wahre zu erkennen, eigentlich ja sogar darum, was er eigentlich überhaupt erkennen kann. Denn: mit der Erkenntnisfähigkeit des Menschen kann nur ein Optimist oder ein Pragmatiker wirklich zufrieden sein. Der eine sagt: „Egal, wird schon gut gehen!“ Der andere: „Egal, so lange es funktioniert!“ Nur die Pessimisten sind ein wenig vorsichtiger, neigen aber dazu zu erwarten, dass es sowieso kein gutes Ende nimmt.

Es scheint keine bessere Möglichkeit im Umgang mit diesem Problem für den Menschen zu geben, als die eigene Erkenntnisfähigkeit auf die eigene Erkenntnisfähigkeit zu richten, um damit die Bedingungen und Voraussetzungen unseres Verstandes zu untersuchen. Auch wenn man weiß, dass damit das Problem nicht gelöst, sondern allenfalls problematisiert wird, denn jede Erkenntnis ist gefärbt durch diese Bedingungen und Voraussetzungen.

Frei nach Hannah Arendt scheint es drei Wege zu geben, mit den Mängeln der menschlichen Erkenntnisfähigkeit bei der Wahrheits-Suche umzugehen.

Man strebt rechtschaffen, mit wachem Blick auf sich selber (was heißt: so gut es geht) nach der Wahrheit, oder man ignoriert die Wahrheit und lügt bewusst oder man kann als Verlogener gar nicht mehr zwischen Wahrem und Gelogenen unterscheiden und nimmt nur das als wahr an, was einem gesagt wird.

Wem soll man da zur Pille raten? Weder demjenigen, der sich um die Wahrheit bemüht, noch demjenigen, der in Kenntnis des Wahren, gemäß eigener Gründe, mit der Lüge gegen sie verstößt, nutzt die Pille etwas.

Nur demjenigen, der den Unterschied zwischen Wahrem und Gelogenem nicht mehr kennt, könnte die Pille nützen. Allerdings verhilft ihm die Pille nicht dazu, angemessener mit den Mängeln seiner Erkenntnisfähigkeit umzugehen, denn das kann nur jemand, der darum weiß. Und nur der würde sich die Frage stellen, wie sinnvoll eine solche Pille wäre.

Letztlich ändert die Pille nur Inhalt und Form des jeweiligen Gefängnisses für die Erkenntnisfähigkeit. Für den Insassen bleibt es dabei:  Leben ist "Strafvollzug" als Ausübung als Erscheinung des gerade herrschenden Systems der kognitiven Verzerrungen und der Narrative und Frames, die den Moment bestimmen. Die Erlösungswünsche, die in diesem Gefangenendasein wurzeln sind es, die eine Pille sinnvoll erscheinen lassen. Die Wirkung des "Medikaments" besteht aber niemals in Klarheit und Selbstermächtigung sondern nur in eine neue Zelle, in die die Gefangenen einziehen. Dabei wird vergessen, dass zuletzt doch wieder Farbe und Wirkung der Pille von jemand Anderem bestimmt werden, in dessen Kalkül das Design der Zelle liegt..