· 

Epigenetik I

In der Perspektive der Epigenetik gehen wir davon aus, dass Vererbung nicht nur, wie in der Genetik postuliert wird über die Weitergabe von Merkmalen der Eltern über deren DNA mehr oder weniger vollständig zellular an ihre Nachkommen besteht, sondern dass vielmehr starke Wandlungsprozesse durch den Einfluss der „Außenwelt“ angeregt werden. Diese Veränderungen können dann auch dazu führen, dass sie weitervererbt werden. Das betrifft das Verhalten der Nachkommen und deren genetische Formationen. Das heißt, dass eine traumatische Erfahrung der Eltern zunächst zu Veränderungen ihrer eigenen psycho-physischen Verfassung führt, die dann sowohl als Verhaltensstruktur als auch als Veränderung auf zellularer Ebene an die Nachkommen weiter gegeben wird. Das zeige ich später an den nachweisbaren Konsequenzen, zu denen eine Angststörung der Mutter während der Schwangerschaft und im Säuglingsalter des Kindes führen kann. Es erscheint evident, dass psychisch traumatisierte Eltern, ihre Versehrung durch die Erziehung weitergeben. Das ist eine Form von Vererbung, die besonders wegen die Ereignisse des letzten Jahres verstanden werden muss, denn in unseren Zeiten wird diese verhängnisvolle Entwicklung zum Massenphänomen.

Bei der Beschreibung, was Epigenetik bedeutet werde ich zunächst zeigen, dass es sich dabei inhaltlich nicht um einen modernen Begriff handelt. Das Geschehen der griechischen Mythen verweist auf eine wichtige Bedeutungsebene. Die christliche Lehre von der Erbschuld liefert ebenso wertvolle Ansätze einer weiteren. Nach dreißig Jahren Psychotherapie lässt sich auch aus dieser Perspektive aufzeigen, dass äußere Ereignisse, letztlich schon ab der Zeugung, durch Kindheit und Jugend bis hin ins  Erwachsenenleben zu dauernden Veränderungen führen, die das ganzes Leben beeinflussen können. Diese Zusammenhänge zu verstehen, erscheint aus gegebenem Anlass ähnlich wichtig, wie das Wissen um die körperlichen und psychischen Stressreaktionen, die als Ausübung als Erscheinung das gesamte Leben der Menschen bestimmen, die unerkannt und unbewusst den Weg zu jeglicher Manipulation öffnen. Bei der Bestimmung des Wissens um die inhaltliche Bedeutung und Relevanz des Begriffs der „Epigenetik“ beginne ich im alten Griechenland. Von „da“ aus zeige ich die verschiedenen  meiner Meinung nach zentralen Bedeutungsebenen.

 

Die programmatische Aufforderung „Gnothi seauton“ stand am Eingang zum Tempel des Apollon im altgriechischen Delphi. „Erkenne Dich selbst“ zugleich Aufforderung und Motto für die Ratsuchenden, welche die Pythia, die Orakelpriesterin aufsuchten.

Die Griechen hofften zu erfahren, welches Schicksal von den Göttern für sie vorgesehen ist. Meist war die Antwort rätselhaft und undeutlich. Oft erst viel später im Leben, so heißt es, habe sich den Ratsuchenden die Antwort der Pythia enthüllt. Das ist eine „moderne“ Frage, die mit dem Verlust der Geborgenheit einer göttlichen Ordnung seit dem 18. Jahrhundert gestellt werden musste, weil die Gewissheit des Eingebettetseins in eine umfassende Ordnung immer mehr verloren gegangen ist.

Und so ging es den Griechen mit ihren Fragen nicht um eine Antwort nach dem Sinn ihres Lebens. Sie waren ihrer selbst stets gewiss. Sie wollten wissen, ob sie in ihren Plänen und im Handeln erfolgreich sein würden, ob die Götter auf ihrer Seite stünden, ob sie bekommen würden, was sie wollten, ob sie siegen würden oder scheitern. Die Frage, „wer bin ich?“ hat sie nicht interessiert.

Von dieser unhinterfragten Selbstgewissheit haben wir uns nach zweitausend Jahren christlich geprägter Kultur weit entfernt. Zutiefst verunsichert fragen wir heute: warum sind wir, wer und wie wir. Unser Leben ist gewissermaßen theoretisch Geworden und vorläufig. Bevor wir handeln, fragen wir nach dem „warum“ und dem „Sinn“. Deshalb fragen wir Verwirrten „wie wirklich ist die Wirklichkeit?“. Die Griechen haben einfach gehandelt. Ihr Leben war unhinterfragbare Wirklichkeit.

Bei den Griechen fand sich die Antwort auf die Frage nach dem Grund für ein Geschehen häufig in den Taten legendärer Vorfahren im Zusammenspiel mit dem Willen der Götter. Das schreckliche, tragische Leben des Helden Ödipus ist eine Auswirkung eines Fluches der Göttin Hera, der über seinen Vater Laios verhängt wurde. Laios hatte den Sohn seines Gastgebers Pelops entführt, den schönen Jüngling Chrysippos und damit unter anderem gegen das Gastrecht verstoßen hatte, dass der Göttin Hera heilig war. Weil es dem Pelops den geliebten Sohn entrissen hatte, sollte Laios niemals einen Sohn erhalten. Würde ihm aber dennoch ein Sohn geboren werden, so solle dieser Sohn ihn töten. Die Wirkung des Fluchs fürchtend, wollte er seinen Sohn Ödipus ermorden lassen. Der aber wurde gerettet. Ödipus Leben steht von Anfang an, unter dem Einfluss dieses Fluchs, bevor er nur irgendeine Schuld durch sein eigenes Handeln auf sich laden konnte. Vor dem Verhängnis, oder der Unvermeidlichkeit, verkörpert durch die Göttin Nemesis, vollziehen sich die Konsequenzen des Fluches. In der griechischen Tragödie ist es oft so, dass die von Nemesis betroffenen Personen, den eigentlichen Gründen für die Schicksalsschläge gegenüber „blind“ sind. Heute würden wir sagen, dass sie ins Unbewusste verdrängt sind. Umso wichtiger erscheint die Aufforderung Apollon’s in seinem Heiligtum in Delphi: „Erkenne Dich selbst“.

Diese Bedingung ist aber nicht einfach zu erfüllen. Die Schwierigkeiten bei der Lösung dieses Problems sind zunächst anscheinend unüberwindbar. Denn das Kennzeichen des „nicht Gewussten“, und seit Freud des „Nichtbewussten“ ist, dass es mir entzogen ist. Das wussten natürlich auch die Griechen. Das Einwirken der Götter auf das Schicksal war ihnen verborgen. Das Konzept von Bewusst und Unbewusst hätte ihnen hingegen vermutlich nichts gesagt. 

In der griechischen Tragödie geht es oft um dieses Problem. Für sie liegt ein Schleier der Nichterkennbarkeit über den Gründen für das Verhängnis. Die Lösung zeigt sich zuletzt nur im Ergebnis ihres Handelns. Die Orakel klären sich zuletzt. Auch die griechischen Helden zeigen einen mächtigen inneren Widerstand gegen die Erkenntnis der Nemesis. Ähnlich wie der heutige Mensch mit den Widerständen seiner Abwehr das verdrängte Wissen abblockt. Bis zuletzt leugneten die Griechen die Wahrheit. Wie wir auch. Ödipus nimmt sich selbst das Augenlicht. Er wird blind. Was für eine Metapher auch für unsere eigenen Verweigerungen der Wahrheit, zu sehen, was ist.

Bei den Griechen war der Therapeut der Begleiter auf dem Weg zu den oft schwer deutbaren Antworten der Gottheit. Diese Schwierigkeiten bei der Selbsterkenntnis in einem Klärungsprozess sind auch dem heutigen „Forscher am Selbst“ bekannt. Denn auch in einem Erkenntnisprozess, und das ist eine Therapie letztlich immer, sieht sich der Hilfesuchende, der Fragende immer wieder mit seinen eigenen inneren Widerständen konfrontiert, mit seiner eigenen Blindheit. Um sich tiefer kennenzulernen muss ein Weg gefunden werden, mit den Widerständen umzugehen. Das ist der Weg des Helden. Allerdings gibt es bei den Griechen kein Happyend. Zum Schluss vollzieht sich die Nemesis. Das verhängte Schicksal zeigt sich im Verlauf der Tragödie.

Zuletzt im Moment der Enthüllung seiner Nemesis erkennt Ödipus sein Schicksal. Er versteht das Geschehen, er erkennt, dass sein Leben Antwort auf die Ur-Schuld seines Vaters und seiner daraus erwachsenen eigenen Schuld gegenüber den Geboten der Götter gewesen ist. Das zu verstehen verleiht Ödipus zuletzt Weisheit.

 

Wie wir sehen werden, verweist der Mythos auf Perspektiven des Werdens unserer Persönlichkeit, die der Aspekt des modernen Begriffs der Epigenetik, die für mich zunächst im Vordergrund steht, letztlich sehr ähnlich erklärt. In vielerlei Hinsicht geht es auch bei den Betrachtungen der Epigenetik um die Taten unserer Vorfahren. Manchmal findet sich der Ausgangspunkt für unsere Nemesis wie bei den Griechen im Leben vergangener Generationen.

Dafür möchte ich ein Beispiel anführen, das auf ganz allgemeine Art zu bestimmten Aspekten des Miteinanders in unserem Kulturkreis beigetragen hat. Spätestens in der Mitte des siebzehnten Jahrhunderts wird mit dem Erscheinen der Meditationen von Rene Descartes offenbar, dass sich die Menschen nicht mehr als ein ganzes Lebewesen begriffen, das fest in der Ordnung von Gottes Schöpfung verankert war. Der Mensch sah sich nicht mehr als Ganzes, sondern als ein System von Teilen. Descartes trennte den Menschen auf in einen geistigen und einen materiellen Menschen, in eine res cogitans und eine res extensa. Weder Descartes noch seinen Nachfolgern gelang es festzustellen, wie diese beiden disparaten Elemente zusammen wirken konnten, man hatte nicht mal eine stichhaltige Idee, wie der Geist den Körper beeinflussen überhaupt beeinflussen konnte. Weil der „Geist“ sich dann zuletzt so wenig der neuen wissenschaftlichen Perspektive als zugänglich erwies, nahm man ihm zuletzt seine Eigenständigkeit. Der französische Arzt La Mettrie brachte es im achtzehnten Jahrhundert auf den Punkt: der Mensch ist eine biologische Maschine. Das ist auch heute noch die beherrschende Sicht auf den Menschen. Vor allem aber bedeutete dies meiner Meinung nach den völligen Verlust des Gefühls des Eingebettetseins in eine den Menschen übersteigende Ordnung im Sinne der „religio“ der Rückangebundenheit an eine transzendente Welt. Die Maschine Mensch leistete so nur noch wenig Widerstand gegen seinen Verbrauch im Vollzug der technischen Revolutionen im Laufe der kommenden Generationen.

 

Und heißt es nicht in der Bibel, dem christlichen Mythos, „…und Gott straft bis ins siebente Glied!“. Letztlich könnte man die christliche Vorstellung von der Erbschuld, die wegen der Sünden der Ahnen aller Menschen, Adam und Eva zum zumindest zu einem kulturellen Teil des „Genoms“ der Menschen unseres Kulturkreises geworden ist. Wie wir sehen werden, sind die Bilder aus Mythos und Wissenschaft an dieser Stelle kompatibel. Beide Zugänge ermöglichen Perspektiven, die zu einem tieferen Verständnis unserer selbst verhelfen.

 

Der Begriff Epigenetik ist eine Zusammensetzung der griechischen Wörter für Abstammung γενεά geneá  oder γένεσις génesis, Ursprung“ mit der Präposition epi, von oder dazu. Mit Genetik bezeichnet die Wissenschaft, die gewissen Gesetzende Vererbung von Merkmalen über einen Zeitraum hinweg, der dabei inneren verankerten Gesetzmäßigkeiten folgt. Der „modernere“ Begriff Epigenetik besagt, dass noch andere Faktoren von außen „dazu“ kommen. Wir sehen diese Umschreibung passt schon sehr gut zu den Geschehen in der griechischen Tragödie. Zum Leben des Helden treten Faktoren aus seiner Abstammung dazu. Genauso kann „Epigenetik“ auch für das Geschehen und die daraus resultierenden Folgen im Buch Genesis (!) verwendet werden. Und ganz genau so beschreibt der Begriff, was bei uns allen, zunächst unerkannt und unverstanden aus Abstammung und Ursprung hinzukommt aus dem Leben unserer Ahnen und natürlich besonders von unseren Eltern.

Der Biologe B.H. Lipton hat den Begriff „Epigenetik“ populär gemacht. Zunächst ausgehend von dem Geschehen auf Zellebene hat er beschrieben, dass unsere Zellen bei Teilung und Wachstum nicht nur gewissermaßen „um sich selbst“ kreisen, indem sie nur gemäß des in der DNS-Erbinformation festliegenden Codes agieren, sondern, dass sie geradezu im Gegenteil, auf Reize reagieren, die von Außerhalb der in der Zelle festgeschriebenen Regeln stammen. Man könnte sagen aus einem „Monolog“ der DNS ist ein Diskurs mit der Welt geworden.

 

Zunächst werde ich einige andere Erklärungsansätze für Faktoren, die bei unsere Persönlichkeitsentwicklung eine Rolle spielen beschreiben. Anschliessend erkläre ich, was mit Epigenetik gemeint ist. Natürlich nimmt dabei die Frage, welche Bedeutung die Epigenetik für unser seelisches und körperliches Leben hat. Dabei werden wir den Mythos in unsere Überlegungen miteinbeziehen. Mythos und die Theorie der Epigenetik sind sehr gut miteinander vereinbar.

 Das Thema „Epigenetik“ ist faszinierend und schafft neue Möglichkeiten das „Problemkind“ Mensch besser zu verstehen. Ganz im Sinne des griechischen gnothi seauton verhilft es dazu, uns selbst und unser in-der-Welt-sein besser zu verstehen.